Der Fall Dilek Kalayci: „Vorwurf ist gravierend“ – Ex-SPD-Senatorin wegen Bestechlichkeit angeklagt - WELT (2024)

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Als Mitte Dezember 2022 die Griechin Eva Kaili, damals noch Vize-Präsidentin des EU-Parlaments, unter Korruptionsverdacht festgenommen worden war, begann das übliche Empörungsritual – verbunden mit der Forderung nach rascher Aufklärung und Offenlegung aller Fakten, damit sich die Öffentlichkeit ein Bild machen kann. Ganz vorn dabei: die SPD. Denn Kaili, die alle Vorwürfe bestreitet, war damals noch Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion. Katarina Barley, ebenfalls Vizepräsidentin der EU-Institution und bei der jüngsten Europawahl SPD-Spitzenkandidatin, bescheinigte der Beschuldigten, zu den „Personen mit hoher krimineller Energie“ zu gehören. SPD-Chef Lars Klingbeil sprach Kaili ab, die Werte der Sozialdemokratie zu vertreten.

Nur wenige Tage später berichtete der Berliner „Tagesspiegel“ unter der Überschrift „Korruptionsverdacht gegen SPD-Politikerin“ zum ersten Mal über Ermittlungen gegen die frühere Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD). Diese liefen zu dem Zeitpunkt schon etwas mehr als ein Jahr, ohne dass die Bevölkerung davon in Kenntnis gesetzt wurde. Bis heute ist öffentlich nicht bekannt, ob – und wenn ja – wann die SPD davon erfahren hat, dass die Staatsanwaltschaft Berlin den Vorwürfen auf den Grund geht. Die Partei, die im Falle Kailis vollständige Transparenz wünschte, schwieg eisern.

Weder der Landes- noch der Ortsverband Kalaycis reagierten damals auf mehrere WELT-Anfragen. Antworten gab es auch keine auf Fragen über Mutmaßungen, dass die Ermittlungen der wahre Grund dafür gewesen seien, dass die SPD-Abgeordnete im Sommer 2021 – für Außenstehende damals überraschend – ihren Ausstieg aus der Politik verkündete. Sie selbst nannte vor Publikum kein Motiv. Der „Tagesspiegel“ berichtete zu der Zeit von Widerstand in Kalaycis SPD-Ortsverband, sie erneut als Kandidatin für die Abgeordnetenhauswahl im September 2021 zu nominieren.

Die CDU, die noch in der Opposition zur Koalition aus SPD, Grüne und Linke stand, hielt den Vorgang für einen Skandal. Sie sah darin ein generelles Beispiel für „das System SPD“ in der Hauptstadt und hielt die Vorwürfe gegen die Ex-Senatorin für die „Spitze des Eisbergs“. Der damalige CDU-Landesgeneralsekretär Stefan Evers beklagte sich wenige Tage vor der Berliner Wiederholungswahl am 12. Februar 2023 darüber, dass die Öffentlichkeit „so gut wie nichts“ darüber wisse, „welche Rolle Kalayci offenbar bei der Vergabe lukrativer Werbeverträge gespielt“ habe, warum das Verfahren ein Jahr lang nicht bekannt geworden sei „und ob es einen Zusammenhang zwischen den Ermittlungen und ihrem überraschenden Ausscheiden aus der Politik“ gebe.

Die CDU hält sich bedeckt

Mittlerweile hat sich einiges getan. Die CDU regiert mit der SPD zusammen, Evers ist Finanzsenator. Und der Verdacht gegen Kalayci hat sich aus Sicht der Staatsanwaltschaft so stark erhärtet, dass der Ex-Senatorin wegen Bestechlichkeit – eine Spielart der Korruption – der Prozess gemacht werden soll. Mitangeklagt ist der Ermittlungsbehörde zufolge ein Inhaber einer Werbeagentur, der Kalayci bestochen haben soll. Der Deal soll so ausgesehen haben: Das PR-Unternehmen habe die Hochzeitsfeier Kalaycis organisiert, aber dafür nie eine Rechnung gestellt. Im Gegenzug habe die Ex-Politikerin der Firma Aufträge aus dem Senat zugeschanzt. Kalayci weist die Anschuldigung seit jeher zurück.

Die SPD-Landesvorsitzende Nicola Böcker-Giannini sagt auf WELT-Anfrage: „Es gilt die Unschuldsvermutung bis zum Schuldspruch. Der im Raum stehende Vorwurf ist gravierend, und daher begrüßen wir es, dass es nun zu einer gerichtlichen Klärung kommt. Dabei vertrauen wir fest in die Urteilsfähigkeit des zuständigen Gerichts.“ Die CDU hingegen äußert sich nicht zur Anklage gegen Kalayci.

Anders hingegen Linke und Grüne, die sich in dem Fall während ihrer Zeit in der Regierung mit den Sozialdemokraten bedeckt gehalten hatten. Bettina Jarasch, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landesparlament, bezeichnet die Anklage als „alarmierend“. WELT teilt sie mit: „Es ist unerlässlich, dass Vorwürfe dieser Art lückenlos und transparent aufgeklärt werden, da sie das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unsere demokratischen Institutionen belasten.“ Eine gerichtliche Überprüfung der Vorwürfe sei wichtig und richtig. „Korruption oder Amtsmissbrauch ist inakzeptabel und muss Konsequenzen nach sich ziehen.“

Sebastian Schlüsselburg, rechtspolitischer Sprecher der Linken im Abgeordnetenhaus, sagt WELT: „Es gab schon länger Gerüchte über möglicherweise unzulässiges Geschäftsgebaren zwischen der Senatsverwaltung für Gesundheit und der in Rede stehenden Agentur.“ Er verweist auf die Unschuldsvermutung, erklärte jedoch auch: Im Falle einer Verurteilung „würde das dem ohnehin nicht hohen Vertrauen in Spitzenpolitiker weiter Schaden zuführen“. Dann müssten Senat und Abgeordnetenhaus unverzüglich alles dafür tun, Korruption und Bestechlichkeit in der Politik strukturell besser einzudämmen. „Da ist noch Luft nach oben. Wir haben in Berlin zum Beispiel immer noch keine Karenzzeit für Senatoren.“

Grüne und Linke hatten im Juni vergangenen Jahres dazu einen gemeinsamen Gesetzesvorstoß unternommen: Für die höchsten Mitglieder der Landesregierung soll es Hürden für einen Wechsel in die freie Wirtschaft geben. In den ersten zwei Jahren nach Ende ihrer Amtszeit sollen sie etwaige Jobangebote außerhalb des öffentlichen Dienstes melden müssen, falls sie sie annehmen wollen. Ein Gremium des Parlaments soll beurteilen, ob eine zu große Nähe zur früheren Tätigkeit im Senat vorliegt, Interessenkonflikte entstehen und Schäden für die öffentliche Hand entstehen könnten. Ex-Senatoren sollen bei Verstößen bis zu 10.000 Euro Strafe zahlen müssen.

Was Kalaycis Anwalt sagt

Im Fall Kalaycis hätte ein solches Gesetz ohnehin nicht geholfen: Sie war in dem fraglichen Zeitraum noch Teil der Landesregierung. Bevor Kalayci das Gesundheitsressort übernahm, war sie zwischen 2011 und 2016 Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen. Durch die Antwort auf eine CDU-Anfrage von Anfang 2023 ist bekannt, dass die fragliche PR-Agentur von 2015 bis 2022 durch insgesamt neun Aufträge des Landes Berlin insgesamt mehr als 6,7 Millionen Euro verdiente. Evers sagte seinerzeit: „Erst als wir mit einem Untersuchungsausschuss drohten, hat die Mauer des Schweigens Löcher bekommen. Nun kennen wir immerhin erste Beträge.“

Unter anderem hatte die PR-Firma mit Beginn des Jahres 2020 für die seinerzeit Kalayci unterstehende Senatsverwaltung für Gesundheit das Projekt „Pflege Deine Zukunft“ betreut – offenbar bildet dieser Auftrag den Hintergrund der Anklage. Die besondere Brisanz liegt wohl auch darin, dass es personelle Verbindungen zwischen der Werbeagentur und den Berliner Sozialdemokraten gab oder gibt. Eine Führungskraft des Unternehmens hatte oder hat eine herausgehobene Funktion in Kalaycis SPD-Ortsverband Tempelhof-Schöneberg.

Finanziell schlecht zu gehen scheint es der Ex-Senatorin nicht. Ihr Verteidiger Robert Unger zählt zu den teuersten Anwälten Berlins. Er teilt WELT auf Anfrage mit: „Sie versichert, dass sie, bis ihr der Vorwurf bekannt geworden ist, stets davon ausging, dass die Leistungen der Werbeagentur ordnungsgemäß abgerechnet und vollständig bezahlt worden sind.“ Hätte seine Mandantin Kenntnis davon gehabt, hätte sie es nicht hingenommen. „Frau Kalayci hat auch zu keinem Zeitpunkt gegen ihre Dienstpflichten verstoßen.“